04/06/2023

Itaewon: eine Woche danach

Im Rahmen der vielen kleinen und großen Abschiede in Deutschland gab es immer wieder den Hinweis, ich sollte doch in Korea ein neues System der Notfallseelsorge aufbauen und es dem Fachbereich im Bistum Augsburg zuordnen. Wir haben viel darüber gelacht – schließlich erschien es doch ziemlich vermessen, mit einem solchen Gedanken nach Korea zu gehen.

Ich meinte zu wissen, dass das sicher nicht passieren würde. Meine pastoralen Aufgaben würden ganz sicher ganz woanders liegen. Was natürlich zum großen Teil auch gestimmt hat. Bis zum 29.Oktober 2022.

Halloweenfeier in Seoul. Man muss wissen, dass der Stadtteil Itaewon von jungen Erwachsenen zwischen 20 und 30 gerne als Ort genutzt wird, an dem gefeiert wird. An Halloween erst recht. Wer schon eine Weile in Seoul gelebt hat (und etwas oder auch sehr viel älter ist) meidet die Menschenmassen eher.

100.000 Menschen waren aber da. Und viele sind dort hingegangen, um sich und andere zu fotografieren. Vor allem dort, wo kleine und große Celebreties, Stars und Sternchen eben, ein paar Tage vorher oder am selben Abend ein Restaurant oder einen Club oder ein Café besucht haben. So ein Besuch wird gerne vom Restaurantbesitzer arrangiert und bezahlt. Dann wird auf Social Media damit geworben, und alle müssen hin zu diesem Ort zum Essen und zum Fotografieren. Ein gutes Geschäft ist das allemal.

Kreuzung in Itaewon am 4.11.2022. Vieles ist noch abgesperrt.

Andere wollten einfach die Kostüme bewundern und sich treiben lassen. Einfach mal in Itaewon dabei sein – etwas trinken, essen -Spaß haben. Vielleicht einen Club besuchen. Und nach ein paar Stunden wieder fröhlich weiter ziehen. Geht man auf den breiten Straßen, sind so viele Menschen noch kein allzu großes Problem.

Eines der vielen Beileidszeichen im Internet. Hier steht der Name Itaewon auf koreanisch.

Auf dem Titelbild sieht man nun aber eine der Gassen, in denen die Tragödie passiert ist. Menschen waren gestürzt im Gedränge, andere wurden auf sie drauf geschoben, und eine Panik brach aus -die zu bisher 154 Toten geführt hat und unzähligen Verletzten und seelisch Traumatisierten. 19 der Verstorbenen kamen aus dem Ausland.

Zusammen mit der evangelischen Pfarrerin Mi-Hwa Kong habe ich in den letzten Tagen viele Gespräche geführt mit Überlebenden, mit körperlich unverletzten oder leichtverletzten, mit traumatisierten jungen Menschen, die zum Beispiel Ersthelfer waren. Die Hilfs-und Einsatzbereitschaft dieser Menschen ist mehr als bewundernswert. Einer davon hat mindestens 12 Menschen, ein anderer sogar über 50 Menschen das Leben gerettet – durch einfache Erste-Hilfe-Maßnahmen, ohne die diese aber keine Chance gehabt hätten und jetzt auch tot wären. Der Gebrauch des GMV-Faktors war hier entscheidend. Der GMV-Faktor gehört zu den wichtigsten Eigenschaften, die man als Mensch generell haben sollte – GMV steht für den gesunden Menschenverstand.

Leider gibt es in dieser Tragödie einen Aspekt, der das Geschehen noch mehr verdunkelt und einfach unfassbar wütend macht: Itaewon hat wegen der Beliebtheit unzählige Restaurants und Clubs, und viele Security-Mitarbeiter dieser Lokale haben nachweisbar verletzten und schutzsuchenden Menschen den Zutritt verweigert. Die Zahl der unterlassenen Hilfeleistungen in dieser Nacht ist für mich nicht quantifizierbar, es ist uns aber sehr oft davon erzählt worden. Das ist natürlich ein großes Thema hier in Seoul. Die Frage ist: Warum haben diese Menschen nicht geholfen?

Komm, heiliger Geist und erfülle die Menschen mit Barmherzigkeit!

Da wir inzwischen etwas Einblick in die koreanische Gesellschaft haben, können wir feststellen, dass ein Pendant zu unserem deutschen Paragraphen 323c StGB, der unterlassene Hilfeleistung unter Strafe stellt, hier wohl nicht existiert. Und die hiesige Gesellschaft ist extrem auf die Einhaltung von Regeln fixiert – wenn es aber eine Regel nicht gibt, muss man auch nichts tun. Das ist natürlich jetzt pauschalisiert formuliert und gilt nicht für alle Koreaner und Koreanerinnen. Aber für das Personal in vielen Restaurants in Itaewon eben doch. Der Beistand des heiligen Geistes ist hier dringend erforderlich.

Angezündete Kerzen. Jede steht für einen lieben Verstorbenen.

Die Herausforderung für mich und für Mi-Hwa war und ist nun, dass wir nicht wie in Deutschland auf Leitstelle, Einsatzstab und hunderte von Notfallseelsorge-Einsatzkräften zurückgreifen können. Mein Nachfolger und neuer Leiter des Fachbereiches Notfallseelsorge des Bistums Augsburg, Diakon Martin Linder, unterstützt uns aber mit Materialien und Ideen und Gebet – vielen Dank dafür!

Gebet ist sowieso das, was uns hier am meisten hilft. Zu wissen, dass für uns christliche und muslimische Freunde und Freundinnen aus ganz Deutschland beten, zum Beispiel in Königsbrunn und Bonn und dem Allgäu und an vielen weiteren Orten ist eine sehr kostbare und heilende Erfahrung.

Beim Lichtritus
Predigt

An Allerseelen haben wir einen ökumenischen Trauergottesdienst angeboten, der auch gestreamt wurde und ein gutes Echo gefunden hat.

Wir haben unsere Erreichbarkeit über Facebook und Instagram gestreut und die deutschsprachigen Botschaften, die eigene Notrufnummern haben, geben unsere Daten weiter an Firmen und Einzelpersonen, die sich dort melden. Dadurch können wir den Menschen gut beistehen.

Seit gestern gibt es eine neue Homepage der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Korea: www.dkgseoul.com.

Die war notwendig geworden, weil die alte einem Hackerangriff zum Opfer gefallen ist. Ich bin dabei, hier einen Downloadbereich aufzubauen, der zur Zeit Flyer in drei Sprachen anbietet zum Umgang mit belastenden Situationen. Weitere Materialien sollen dazukommen.

Also: Das Notfallseelsorge-System hier ist ziemlich überschaubar, was Personal und Ausstattung angeht (ich habe aber immerhin schon einen Rucksack mit Schreibzeug und Wasser und sogar schon Flyer darin), aber es ist doch ein Anfang gemacht. Und einen Namen hat das System auch schon: German Speaking Emergency Pastoral Care in Korea. Wir hoffen inständig, dass wir dieses System so schnell nicht mehr brauchen, sind aber natürlich auch weiterhin für die Menschen hier erreichbar.

Da der Mensch, auch und gerade der notfallseelsorgende Mensch, sowie der ihn unterstützende und mit ihm verheiratete Mensch auch mal Pause brauchen, schreibe ich diese Zeilen etwa 75 km entfernt von unserer Wohnung. Wir sind in einem kleinen Ort östlich von Seoul in einem Hotel und atmen mal durch.

Wo wir hier sind? Was wir hier vorhaben? Es hängt mit etwas zusammen, das ziemlich weit von der Erde entfernt ist.

Die Auflösung kommt in ein paar Tagen – erst muss ich eine Menge Fotos machen.

Danke für alle solidarischen Zeichen, die Christine und mich vor allem in der letzten Woche aus Deutschland, den USA und England erreicht haben. Wir wissen das sehr zu schätzen.

Herzliche Grüße in alle Welt.

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