19/04/2024

Grenzerfahrungen

Das ist doch mal eine Vision.

Einfach mal ein Schild aufstellen: Hier schlagen keine Raketen ein. Und darauf zu vertrauen, dass das auch wirklich nicht passieren wird.

Das Bild hab ich in der Nähe der Demilitarisierten Zone (DMZ) gemacht, also ziemlich weit im Norden von Südkorea. Hier rechts sieht man noch ein weiteres Schild – es bedeutet „Keine Scharfschützen“.

Die Zone wurde 1953 eingerichtet, nach dem dreijährigen Koreakrieg. Sie läuft von Westen nach Osten über die Halbinsel, schneidet nördlich von Seoul den 38. Breitengrad und ist 248 km lang und 4 km breit. Am 27. Juli 1953 wurde das Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Was nicht bedeutet, dass die Kämpfe und weitere Verletzungen des Abkommens nicht weitergingen.

– Von Herbst 1966 bis Herbst 1969 gab es Gefechte entlang der DMZ – 43 US-Amerikaner, 299 Südkoreaner und 397 Nordkoreaner starben in dieser Zeit.

– Von 1974 bis 1990 wurden insgesamt 4 Tunnel gefunden, die von Nordkorea aus gegraben worden waren, damit Soldaten im erneuten Kriegsfall schnell nach Südkorea gelangen können.

– 1996 drangen mehrere hundert bewaffnete nordkoreanische Soldaten in die DMZ ein und verletzten den Waffenstillstand.

. .. und so weiter und so fort.

Bis zu den aktuellen Raketentests von Nordkorea in diesen Wochen und Monaten. Diese verhindern im Moment, dass man in die DMZ hinein kommt – geführte Touren sind sonst eigentlich schon möglich. Das „Hier-keine-Raketen-Schild“ ist ein Zeichen der Hoffnung……und des Träumens vom Frieden, von Wiedervereinigung und von Demokratie auf der gesamten koreanischen Halbinsel. Ich glaube, dass das koreanische Volk schon unendlich viel gelitten hat und dennoch die Hoffnung nicht verliert, dass es weitergeht.

Der touristisch angelegte Bereich

vor der DMZ hält viele Informationen parat,

die den mit dem Thema unvertrauten Besucher gut in die Problematik einführen. Die Gegend an sich ist sehr schön. Mit einer Gondelbahn fährt man über einen Fluss

und hat einen guten Überblick und Blick auf die Landschaft.

***

Korea erlebe ich als ein Land voller unterschiedlichster Dimensionen, die bei weitem nicht alle leicht zu ertragen sind.

* Da gibt es den Anspruch, möglichst schnell möglichst viel aufzubauen – nicht zufällig hat Südkorea innerhalb weniger Jahrzehnte den Aufstieg von einem sehr landwirtschaftlich geprägten zum hochtechnologisierten Land geschafft.

Wer hier in Seoul Bus oder Metro fährt, kann für überschaubare Preise sehr weite Strecken fahren und dabei auf eine große Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit bauen. Und die Apps, die man als Neuling braucht, um von A nach B zu kommen sind sehr hilfreich.

* Die Menschen sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Mal abgesehen davon, dass 99 Prozent immer und überall auf das Smartphone schauen, scheint es hier um leben und leben lassen zu gehen. Man wird nur selten direkt angeschaut – das machen eigentlich nur die, die mal längere Zeit in Europa oder Amerika gelebt haben, trotzdem wird sehr genau geschaut und verglichen, welche Kleidung man trägt. Die vorherrschende Farben sind hier beige-grau-schwarz-hellbraun; gelb oder gar rot sieht man kaum – und wenn, dann bei Ausländern.

* Fährt man Taxi, erlebt man oft eine sehr rauhe Seite. Die Taxifahrer sind meistens schon älter, weit über 60, oft mit sehr wenig Verständnis für Aussprachefehler und sehr oft mit äußerst wenig Geduld. Der Fahrstil ist entsprechend. Wir haben aus der Gemeinde Berichte gehört von Taxifahrern, die nachts eine Fahrt in eine einsamere Gegend abgelehnt haben, weil sie befürchteten, dort keine Anschlussfahrt zu bekommen. Und die Versuchung, so zu tun, als wäre das Kreditkartengerät kaputt, um das Bargeld anschließend nicht versteuern zu müssen, ist ziemlich groß. Gelassenheit ist das Gebot der Stunde.

* Es gibt Menschen, die ganz genau wissen, wie „die“ koreanische Gesellschaft funktioniert. Auch wenn wir schon sehr unterschiedliche koreanische Mitmenschen getroffen haben,

gilt es offenbar, bestimmte traditionelle Verhaltensweisen den aus Deutschland neu Angekommenen so zu präsentieren, dass sie mit dem Anspruch absoluter Gültigkeit anzunehmen sind:

– „Koreaner bitten nicht um Hilfe. Man muss erspüren, was sie brauchen, und dann Hilfe anbieten.“ Diese uns fast als Theorem, als wissenschaftlicher Lehrsatz präsentierte absolute Wahrheit mag auf einzelne, vor allem ältere Menschen hier zutreffen, und er erklärt auch manche Verhaltensweise. Er stimmt aber in der Gesamtheit nicht – vor allem jüngere koreanische Menschen lehnen sich dagegen auf und kommunizieren wesentlich offener. (Eine Statue vor dem Hilton Millenium Hotel zeigt beispielhaft etwas, das es so in den Augen einiger Menschen in der Öffentlichkeit nicht geben sollte. Eine spannungsreiche Gesellschaft ist das hier…)

– „Koreaner brauchen und bekommen immer ein Geschenk, wenn sie dir geholfen haben“. Auch dieses stimmt nur zum Teil. Der Wunsch ist durchaus bei manchen spürbar, aber wir haben schon einige erlebt, die ohne den Wunsch nach Gegenleistung Hilfe angeboten haben. Andererseits haben wir auch schon Hilfeangebote bekommen, die dann, als wir konkret angefragt haben, nicht mehr existierten oder aber zugesagt wurden, um dann aber nicht erledigt zu werden.

Das ist besonders schwierig zu ertragen, wenn es sich um Themen handelt, die fristgebunden sind. Da hilft manchmal nur Kuscheln, um das besser auszuhalten.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man in Korea dann Erfolg hat, wenn man ein großes Netzwerk hat. Dies wurde uns auch mehrfach als sehr wichtig präsentiert. Die Frage ist nur, wie ein solches Netzwerk funktioniert. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, das gilt auch in Deutschland und wird hier in der deutschsprachigen Community auch gelassen gehandhabt. Aber wie so oft im Leben gilt auch bei diesem Thema, dass jegliche Verabsolutierung extrem schädlich ist. Wenn einzelne Personen immer wieder versuchen, uns unter Druck zu setzen, uns in ein Schema zu pressen, um uns gefügig zu machen – das sehe ich durchaus als Grenzerfahrung – dann muss ich da gut aufpassen. Dieses Schild, das vor Schlangen warnt, könnte man ja mal diesbezüglich übertragen ;-)…

… es heißt dann: „In Korea darf man nicht zu selbstständig auftreten“, das könnte ja auch eine starke Selbstoffenbarung nach dem Modell von Friedemann Schultz von Thun sein. Es bleibt für uns trotz dieser Erkenntnis eine Herausforderung – und eben eine anstrengende Grenzerfahrung. Dabei tut es uns gut und ist eine große Erleichterung, zu merken, dass wir so viele wunderbare Menschen kennen lernen dürfen, von denen wir unendlich viel lernen dürfen – und auch wollen.

Die Begegnungen bei uns, wenn wir zum Essen oder zum Kaffee einladen, oder die Treffen außerhalb in Cafés oder Restaurants tun uns sehr gut. Es ist ja immer ein wichtiger Unterschied, ob man uns Wissen anbietet zum Weiterdenken und -erfahren oder es laut und zudringlich aufdrängt und verabsolutiert. Wenn Menschen wirklich gemeinsam unterwegs sind, dann werden auch gefährliche Klippen überwunden.

Grenzerfahrungen gibt es aber auch sehr positiv. Wir waren zwei Tage auf Namhae, da

s ist eine Insel an der Südküste (eigener Bericht folgt) und sind von dort aus zum Boriam-Tempel gefahren. Das ist eine heilige Stätte des Buddhismus.

Die Menschen kommen hierher, weil man sagt, dass hier die Gebete eher erhört werden. Es ist immer wieder schön zu erfahren, dass die gefühlte Grenze zwischen Mensch und Gott in den unterschiedlichsten Religionen dadurch leichter überwunden wird, dass man besondere Orte findet und hochschätzt und dort betet.

Positiv wie zugleich anstrengend sind die Grenzerfahrungen im bürokratischen Teil des hiesigen Lebens.

Vom seltsamen Verlangen des Zolls nach einem Nachweis, dass wir verheiratet sind (unsere vorsorglich noch in Deutschland besorgte internationale dreisprachige Eheurkunde

wurde nicht anerkannt, erst die deutsche Botschaft konnte mit einem Schreiben weiterhelfen) über die eher ungewohnte Sichtweise, dass für die fristgerechte Bearbeitung des Visums bzw. dafür notwendige Organisation eines früheren Termins beim Immigration Office 100.000 Won fällig waren (ca 72 Euro) gibt es so manchen durchaus etwas irritierenden Eindruck mit Po

tenzial zum nächtlichen Echo in schlaflosen Stunden.

Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Finanzamt, das mich seit Juli in die falsche Steuerklasse gesteckt hat und zudem Nachhilfe durch meinen Steuerberater in Sachen Doppelbesteuerungs-abkommen zwischen Deutschland und Korea braucht. Ein unnötiger Energieverbrauch… Wer lesen kann, ist da klar im Vorteil.

Grenzerfahrungen sind Erfahrungen an Grenzen. Manchmal sind sie zu respektieren, manchmal aber auch zu überwinden. In meiner heutigen Rundmail an die Gemeinde habe ich geschrieben: „Hier in Südkorea gibt es Gebetsinitiativen, die nicht nachlassen, für die Wiedervereinigung vom Norden mit dem Süden auf der koreanischen Halbinsel zu beten, zu flehen, Gott um seinen Beistand bitten.

Das erinnert mich an die Montagsgebete in Leipzig vor dem Fall der Mauer. Lange davor, 1982, ich war in der 10. Klasse, gab es eine heftige Diskussion in unserer Klasse 10c darüber, ob man sich nicht einfach abfinden müsste mit der Trennung Deutschlands. Ich war wohl der einzige, der Hoffnung hatte und auch Zuversicht, dass sich das ändern könnte und wurde von den anderen belächelt ob meiner scheinbaren Naivität. 7 Jahre später saß ich fasziniert vor dem Fernseher und konnte nicht fassen, was da zu sehen war. Die Mauer fiel und die Wiedervereinigung kam, ganz ohne Gewalt. Eine Grenze wurde überwunden, die als innerdeutsche Todesgrenze eine fürchterliche Geschichte hat.“

Mit dieser Einstellung versuche ich auch hier und heute das Leben in Südkorea zu begreifen – in Hoffnung, aber auch mit klarem Realitätsbezug. Da aber für mich auch Gott real ist, geht es auch um den Gottesbezug. Und nachdem wir hier in der deutschsprachigen katholischen Gemeinde leben, gilt mein Blick den Verheißungen der Bibel – und von ihr wissen wir, dass Grenzerfahrungen immer auch Lebenserfahrungen und Glaubenserfahrungen sind, die oft Gottes Aufruf zum Handeln reflektieren.

Entdecke mehr von Edgars Reiseblog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen