Ich mag die Bücher von Erich Kästner. Vor vier Jahren hab ich mich in einem humorvollen Artikel über die Notfallseelsorge in großen Lagen schon mal kurz auf ihn bezogen, weil er in “Emil und die drei Zwillinge” zwei Vorworte geschrieben hatte. In seinem Buch “Pünktchen und Anton” nun fügt er zwischen die einzelnen Kapitel jeweils eine Nachdenkerei ein. Das war mir immer schon sympathisch, weil ich auch ständig nachdenken muss. Und deswegen füge ich hier in die Reihe der Artikel über die Vorbereitung unserer Reise nach Korea mal so eine Nachdenkerei ein- auch als Theologe.
Zwei Tage waren wir in einem Hotel in Tating an der Nordsee. Von dort sind es nur ein paar Kilometer bis St. Peter Ording, also zur Küste. Ein Ort, der voll und ganz auf Tourismus eingestellt ist.
Auf der Fahrt Richtung Strand gab es Hinweisschilder zu den Strandparkplätzen. Gelesen habe ich: Parkplätze in der Nähe des Strands. Die fanden wir – auch. Aber tatsächlich gab es bis auf vielleicht 100 Meter zum Meer eine Menge Parkplätze auf dem Strand. Wir waren morgens dort, da war noch nicht viel los. Es war offensichtlich, dass Platz für unzählige Autos und Wohnmobile vorhanden war.
Eine für mich zunächst ungewöhnliche, beim weiteren Bedenken aber natürlich sehr praktische Lösung für eine sonst wohl nicht mehr händelbare Situation.
Und ich versuche zu erspüren, was uns Menschen antreibt, mit ganz vielen anderen zusammen am Strand zu sein.
Ich bremse mich gleich wieder aus. Das ist doch banal, denke ich. Strand, Sand, Meer, Wellen, Sonne – das macht einfach Spaß. Jetzt werde mal nicht pathetisch.
Und dennoch bleibe ich dran an diesem Gedanken. Und mir fällt ein, dass es viele Gegenden auf der Welt gibt, die solchen Küstengebieten einen besonderen Namen gegeben haben. Cabo Fisterra/ Cabo Finisterre in Spanien (in gedachter Verlängerung des Jakobswegs von Santiago de Compostela zur Küste), Finistère als Departement im Westen der Bretagne, World’s End auf den Südlichen Shetlandinseln, World’s End in Massachusetts (Halbinsel in Boston Ha
rbor), auch beim Namen Cabo da Roca in Portugal schwang bei den Namensgebern wohl etwas von diesem Gefühl mit, dass die Welt hier irgendwie zu Ende ist. Und wenn die Welt zu Ende ist, wird der Mensch konfrontiert mit existenziellen Fragen.
Es ist mehr als Sonne, Strand und Sandburg. Ob nun bewusst oder nicht- die Freiheit und Weite, die mir an der Küste begegnet, hilft mir, mit vielen Engstellen meines Lebens besser klar zu kommen. Enge hängt etymologisch mit Angst zusammen. Wieviel Angst hab ich zuweilen, was macht mir Angst, wo fehlt mir die Weite und die Freiheit, darüber zu stehen? Und was oder wen brauche ich, um diese Angst zu überwinden?
Solche Küstenerfahrung – die man ja auch sehr gut auf einer Insel machen kann, dort vielleicht noch intensiver – konfrontiert mich mit meiner Sehnsucht, meinen Sehnsüchten.
Ich fange an zu summen, zunächst noch unbewusst. Eine Melodie, die ziemlich bekannt ist:
Ein Kirchenlied: „Da wohnt ein Sehnen tief in uns …“ Text und Melodie: Anne Quigley / deutsch: Eugen Eckert
Refrain: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst.
1. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung bitten wir. In Sorge, im Schmerz – sei da, sei uns nahe, Gott.
2. Um Einsicht, Beherztheit, um Beistand bitten wir. In Ohnmacht, in Furcht – sei da, sei uns nahe, Gott.
3. Um Heilung, um Ganzsein, um Zukunft bitten wir. In Krankheit, im Tod – sei da, sei uns nahe, Gott.
4. Dass du, Gott, das Sehnen, den Durst stillst, bitten wir. Wir hoffen auf dich – sei da, sei uns nahe, Gott.
Ich mag dieses Lied sehr. Und plötzlich bin ich in der katholischen Kirche in Worthing, Südengland. Dort hab ich das Lied vor ein paar Jahren auf englisch in der Originalfassung gesungen.
There is a longing in our hearts for love we only find in you, our God.
Als Theologe kann ich gar nicht anders als festzustellen, dass die Übersetzung ins Deutsche zwar zu einem schönen Text geführt hat, aber das Gottesbild hier einen anderen Akzent hat.
Wenn ich genau hinschaue, dann wird im deutschen Text der verständliche Wunsch, die große Sehnsucht zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch Gott sehen möchte. Die Initiative, die Aktion, der zu gehende Schritt liegt an uns: “Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein.”
Aber im englischen Original fleht der Sänger zu Gott, er möge sich offenbaren: “There is a longing in our hearts, o Lord for you to reveal yourself to us.” Hier liegt die Aktion, die Initiative bei Gott, nicht bei uns. Er entscheidet, wie und wann und wem und auf welche Weise er sich offenbart. Das ist eine Nuance, die wir nicht übersehen sollten.
Sprache gestaltet auch unseren Glauben und unsere Gottessicht. Wir wollen oft gerne selbst entscheiden, wollen machen, wollen auch den Weg zu Gott alleine und selbstständig gestalten und die Kontrolle darüber zu jeder Zeit behalten. Das ändert nichts daran, dass wir aufgerufen sind, uns bewusst für Gott zu entscheiden. Aber seine Offenbarung obliegt ihm allein, nicht uns. Dagegen sind die Bitten und Fürbitten in den Strophen sehr wohl unsere Aufgabe. Und diese Bitten werden abgerundet mit dem Ruf:
“Dass du, Gott, das Sehnen, den Durst stillst, bitten wir. Wir hoffen auf dich – sei da, sei uns nahe, Gott.”
Wir brauchen Gott – gerade in unserer Zeit voll Krieg und Hass und Neid.
Da ist es gut, Spuren zu suchen und zu finden. Spuren, die Hinweise auf den Ursprung geben. An der Küste. Beim Liedtext. Und beim Schöpfer.