Vor genau einem Jahr waren wir in Lourdes und haben miterlebt, wie der Diakoniepreis Pro Diaconia 2017 des Internationalen Diakonatszentrums (IDZ) und der Stiftung Diaconia Christi lnternationalis im Rahmen des Kongresses des IDZ an den brasilianischen Diakon Renato verliehen wurde.
Der Gewinner des Preises, Diácono Renato Afonso Vinhal, hatte die Jury überzeugt, dass er mit seinem Projekt Menschen in großer Not direkt und im Sinne Christi und seines Evangeliums hilft.
Er leitet ein sozialdiakonisches Projekt in Uberaba. Das liegt ungefähr auf halber Strecke zwischen Brasilia und São Paulo.
Das wollten wir sehen, und so haben wir die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sind dort hingefahren.
Sein Projekt, das ich hier kurz vorstelle, wurde 2006 gegründet und kann mit Fug und Recht „Unmittelbare Hilfe in Not“ überschrieben werden – in kirchliche Sprache übersetzt ist das Diakonia pur.
Die Fotos wurden zum Teil von mir und Christine gemacht, zum Teil von Renato selbst; diese sind dann etwas älter, zeigen aber eine andere Jahreszeit. Das ist immer dann der Fall, wenn es wichtig ist für die Darstellung der Arbeit.
Das Projekt heißt Casa de Acolhimento São Pio, was man etwa übersetzen kann mit “Haus der Gastfreundschaft Pater Pio”.

Es ist ein Haus, das Männer aufnimmt, die obdachlos sind und zum Teil auch eine Behinderung haben.

Ziel des Projektes ist die Wiedereinbindung in die Gesellschaft, Vermittlung eines Arbeitsplatzes, gesundheitliche Fürsorge- kurz: Ihnen wieder Hoffnung zu geben, und zwar physisch, seelisch und geistlich.
Renato, der früher für Mercedes Benz Autos verkauft hat, sagt: „Eles devem sentir que são amados por Deus e pelos homens” – sie sollen spüren, dass sie von Gott und den Menschen geliebt sind. Renato möchte ihre Selbstachtung und ihr Selbstwertgefühl stärken.
Er wird dabei von seiner ganzen Familie und unterstützt. Seine Frau Dilma (gesprochen Diuma) arbeitet als Sozialarbeiterin mit. Wir haben seine Familie kurz getroffen.
Das Projekt nimmt Männer allein aufgrund ihrer Not auf. Die Konfession oder Religion oder Weltanschauung spielt bei der Aufnahme selbst keine Rolle, allerdings natürlich schon bei der Betreuung. Wer katholisch ist, nimmt teil an den Gebetszeiten, die regelmäßig angeboten werden. Wer z.B. evangelisch ist, kann das auch, muss aber nicht. Er wird aber dann aufgefordert, in dieser Zeit z.B. in der Bibel zu lesen.
Einmal in der Woche treffen sich die Verantwortlichen, um sich mit den Problemen der Neuangekommenen auseinander zu setzen und Behandlungsstrategien auszuarbeiten.
Wie leicht vorstellbar, bringen die Männer eine Fülle von Problemen mit sich. Suchterkrankungen aller Art, psychiatrische Probleme, Hygiene und vieles weiteres gilt es zu beachten. Die Einrichtung versteht sich daher auch als Clearingstelle. Vieles kann durch die neun Hauptamtlichen abgeklärt werden, die aus verschiedenen Professionen wie Soziale Arbeit, Sanitätsdienst und Psychologie kommen. Dann wird entschieden, ob eine weitere spezialisierte Einrichtung eingeschaltet wird, z.B. für einen Entzug. Es gibt weitere 10 Ehrenamtliche, die permanent dort mitarbeiten und nochmal 15, die von Zeit zu Zeit in verschiedenen Bereichen aushelfen.
Die Bewohner müssen ebenfalls mit anpacken, soweit das möglich, zumutbar und ihnen vermittelbar erscheint.
So ein Projekt kostet Geld. Ich habe Renato gefragt nach den Zahlen.
Das Haus hat pro Monat laufende Ausgaben für Personal, Strom, Wasser etc. von 25.000 Reais, das sind etwa 5320 €. Sie haben dabei eine stets eine Unterdeckung von 25%, die durch Events, Aktivitäten, Basare und Spenden aufgefangen werden muss. Die regelmäßigen Einnahmen kommen vom Staat, da die Einrichtung als Non-Profit-Organisation anerkannt ist und staatliche Aufgaben der Gesundheitsfürsorge übernommen werden. Einiges Gemüse wird selber angebaut, manches davon wird verkauft.
Außerdem gibt es hin und wieder mal einen Basar, um Second-Hand Kleidung zu verkaufen.
Zur Zeit gibt es 40 Bewohner, 9 davon bekommen staatliche Unterstützung. Die Regierung hat festgelegt, dass das Haus davon 70% nehmen darf. Tagsüber kommen auch immer wieder Leute für ein paar Stunden oder zum Essen. Viele von ihnen werden aber erstmal ins Bad geschickt und bekommen komplett andere Kleidung (aus Kleiderspenden, die daher sehr wichtig sind), und ihre alte Kleidung muss verbrannt werden.
Im Bau ist die Casa Benedikt XVI., das wird ein barrierefreies Haus mit Sozialraum.
Bei Renatos Projekt handelt es sich nicht um eine dezidiert kirchliche Einrichtung, da der Staat sonst nicht mehr zahlen würde. Dennoch nimmt der Erzbischof von Uberaba Einfluss auf das Projekt, da Renato als Diakon ihm unterstellt ist – gibt aber kein Geld. Zum Beispiel hat die Erzdiözese von ihm die Einrichtungen einer Krankenstation verlangt, natürlich sehr sinnvoll, aber eben auch kostenintensiv. Früher gab es in seinem Bistum ähnliche Häuser, in denen nicht auf kirchliche und staatliche Vorschriften geachtet worden war.
Ich nehme wahr, staune und frage weiter.
Angesprochen auf seine Visionen, antwortet mir Renato mit der Idee von drei großen Projekten, die er verwirklichen will.
Die eine Idee ist der Bau einer Kirche für 400 Personen. Da die Casa São Pio auch Aufgaben der zuständigen Pfarrei übernimmt, würde der Bau auch von der Erzdiözese genehmigt werden.
Bisher verfügt das Haus über eine kleine Kapelle, in der dreimal pro Woche die hl. Messe gefeiert wird und eben die Gebetszeiten stattfinden.
Die zweite Idee ist eigentlich die erste und ähnlich ambitioniert. Denn das Grundstück soll dem Eigentümer abgekauft werden. Der Grundstückswert wurde von offizieller Seite auf 1.000.000 Reais geschätzt. Da der Eigentümer aber das Projekt unterstützen möchte, werden nur 500.000 verlangt, also ca 107.000 €.
Die dritte Idee ist die Errichtung einer Fabrik für Windeln für Erwachsene. Diese werden zum einen in der eigenen Einrichtung gebraucht, zum anderen könnten sie verkauft werden, um die Einrichtung mit zu finanzieren.
Das Projekt wird seit der Preisverleihung international zumindest mal wahrgenommen, was die Verantwortlichen schon mal begrüßen. Innerhalb der eigenen Diözese waren die Reaktionen eher verhalten. Und damit waren wir bei einer sehr sensiblen Thematik angekommen. Denn die meisten Priester in diesem Bistum vertreten die Theologie der Befreiung, Renato dagegen nicht. Das hat mich sehr überrascht, da mein Bild der Befreiungstheologie bis dahin genau diesem „An der Seite der Armen stehen“ entsprach, wie Renato es vorlebt. Und er erklärte uns, dass diese Priester ihm vorwerfen würden, sich zu sehr ganz konkret für die Armen und zu wenig politisch einzusetzen.
Renato wiederum dreht den Spieß um und sagt, „an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,16) und: „die sollen nicht soviel reden und statt dessen einfach ganz konkret beim Menschen in Not sein.“
Ich habe an dieser Stelle feststellen müssen, dass ich schlicht zu wenig Hintergrundwissen habe, um diesen Konflikt ausleuchten und theologisch-politisch etwas besser verstehen zu können. Ich kann das im Moment nur so stehen lassen, werde aber mit Renato im Kontakt bleiben. Wir haben aus Zeitmangel vereinbart, dass wir solche Fragen auch über das Internet diskutieren können.
Das, was Renato vor 12 Jahren begonnen hat, kann sich sehen lassen. Inzwischen hat das Projekt eine Statistik von über 90% erfolgreiche Resozialisierung, Tendenz weiter steigend.
Die dort aufgenommenen Männer sind ja nun nicht immer leicht integrierbar. Es gibt klare Regeln für das Miteinander.
Wenn das Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe umgesetzt ist, sprich wenn das eigene Leben wieder organisiert ist, kann der Mann wieder gehen, z.B. in seine alte Familie zurück.
Bis dahin ist es zuweilen ein weiter Weg. Man darf keine Drogen mitbringen und konsumieren. Auch Diebstahl in der Einrichtung ist ein Entlassungsgrund. Jeder Bewohner unterschreibt die gemeinsam gelesenen Regeln. Es gibt allerdings hierbei eine besondere Regelung: Jeder hat drei Chancen. Sind die verbraucht, muss er gehen, kann aber nach 6 Monaten wieder um Aufnahme bitten.
Manche von der Polizei gesuchten Männer versuchen sich in der Casa São Paulo zu verstecken, was aber regelmäßig und schnell aufgedeckt wird, wenn Renato sich bei den Behörden um die notwendigen Papiere kümmert.
Die Verabschiedung war brasilianisch und herzlich. Ich habe viel Material über das Projekt mitbekommen und werde es weiter studieren. Für die nächste Diakonenweihe in Augsburg am 7. Oktober haben sich die Weihekandidaten gewünscht, dass für dieses Projekt gesammelt wird. Vielleicht finden wir ja noch weitere Geldquellen. Es wird sinnvoll gespendetes Geld sein – für eine zutiefst diakonische Kirche. Und genau das brauchen wir gerade heute, angesichts der ständig neuen Schreckensmeldungen über sexualisierte Gewalt durch die Kirche und in der Kirche. Unsere Kirche muss sich genau darauf besinnen: dem Menschen zu dienen und ihm zu helfen, seinen Weg zu Gott zu finden.